[Rezension] Leben auf Scherben – Regine Claaßen
Titel: Leben auf Scherben
Reihe: Einzelband
Autorin: Regine Claaßen
Verlag: Selfpublisher
Erscheinungsjahr: 2021
Einband: Taschenbuch
Seitenanzahl: 287
Meine Wertung: 5 Sterne
Klappentext:
Frankreich, Juli 1944. Eric ist jung, gebildet und ein begnadeter Pianist. Zugleich gilt er nach einer steilen Karriere in der Waffen-SS als Himmlers Vorzeigesoldat. Doch nach Jahren an der Front ist sein Glaube an den Nationalsozialismus zerbrochen. Unfähig, die Fassade aufrecht zu erhalten, desertiert er. Auf der Flucht wird er verletzt und findet in einem Lazarett Unterschlupf. Schon bald sucht die SS dort nach ihm. Von der Küste rücken die Alliierten näher. Und zwischen Eric und der Krankenschwester Greta entflammt eine Liebe ohne Zukunft.
Nach dem Krieg wird Eric unter falscher Identität ein erfolgreicher Pianist. Er glaubt, seine Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben, bis nach Jahren erneut Greta in sein Leben tritt. Von ihr erfährt er, dass er als Kriegsverbrecher gesucht wird. Eric erkennt, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss. Mit allen Konsequenzen.
Rezension
Leben auf Scherben erzählt die Geschichte von Eric, einem jungen SS-Obersturmbannführer. Wie es zu seinem schnellen Aufstieg innerhalb der SS kam, erfahren wir nicht, aber mit Beginn der Geschichte steht Eric in der Gunst Himmlers weit oben. Er gilt als Aushängeschild der Waffen-SS. Machen wir uns nichts vor. „Aushängeschild der Waffen-SS“ wird man nicht, weil man im Krieg Blümchen gepflückt hat, sondern weil man die Ideologie, die sich dahinter verbirgt, mit trägt und vor allem auch voranträgt. Was Eric genau erlebt hat, lässt die Autorin aber zunächst weitestgehend offen.
Wir steigen ein, als Eric, nach einem Aufenthalt in der Heimat an die Front zurückkehrt. Nach einem Vorfall in einem kleinen französischen Dorf fängt Eric an zu zweifeln, ob das, was er tut, wirklich das Richtige ist. Nach einem weiteren Vorfall, der später als „Massaker von Arraille“ bekannt wird, ist es endgültig vorbei. Eric ist am Ende seiner seelischen Kräfte und desertiert.
Das Buch hält mehrere zeitliche Sprünge für den Leser bereit. Wir starten im Jahr 1944, mit der Flucht von der Front und einem Unfall, der Eric in das Lazarett bringt, in dem Dr. Berger und Greta ihren Dienst verrichten. In diesem Abschnitt geht es vor allem darum, Eric wieder auf die Beine zu bringen. Wir erfahren einiges über den Alltag im Lazarett, aber auch über die dich anbahnende Liebe zwischen Eric und Greta. In diesem Abschnitt setzt die Autorin sich damit auseinander, wer bereit ist, Eric zu unterstützen und wer nicht. Wir erleben, wie Eric sich immer mehr verschließt, mit seiner Vergangenheit nicht klarkommt. Eingestreut werden immer wieder Rückblicke, in denen wir ein bisschen von Erics Vergangenheit erfahren.
Weiter geht es im Jahr 1958, in dem Eric nach langer Zeit wieder auf Greta trifft und wir erkennen, dass er das, was er getan und erlebt hat, nicht besonders gut weggesteckt hat. Er versucht, mit aller Macht, ein neues Leben, das Leben eines anderen Menschen, zu führen, aber es gelingt ihm nur mäßig. 1958 holt ihn seine Vergangenheit das erste Mal wieder ein. Weiter geht es im Jahr 1964, also nur wenig später. Hier muss ich gestehen, fand ich Eric mit seinen Handlungen etwas naiv. Aber vielleicht war er auch einfach nur verzweifelt.
Im dritten Teil erfahren wir dann endlich die gesamte Hintergrundgeschichte des Massakers. Dieser Teil ist für mich der stärkste Abschnitt des gesamten Buches. Hier erfahren wir das gesamte Ausmaß dessen, was damals in Frankreich passiert ist, was Eric nicht verhindert hat, vielleicht auch nicht verhindern konnte. Wir bekommen aber auch einen tiefen Einblick, wie großherzig Menschen sein können.
Dann sagte sie schlicht: „Geh! Wir erschießen keine wehrlosen Menschen!“
S. 228
Gewünscht hätte ich mir, dass die Figuren ein bisschen mehr Tiefe bekommen, sich ein bisschen mehr mit der Schuldfrage auseinandersetzen. Ich glaube, dass hier noch sehr viel Potenzial in der Geschichte steckt. Als Leser hatte ich irgendwie schon das Bedürfnis, mich mit der Schuldfrage zu beschäftigen. Dabei gibt es, aus meiner Sicht, verschiedene Aspekte, die hier beleuchtet werden. Kann man sich selbst vergeben? Kann einem von anderen (Betroffenen) vergeben werden?
Kann eine solche Schuld, die ein Mensch auf sich geladen hat, je von einem Betroffenen vergeben werden? Dieser Frage geht Regine Claaßen in Form der Figur der Madeleine Ferrére nach.
Spoiler – ausklappen zum Lesen
Ich fand die Ausarbeitung großartig. Sie zeigt, dass Menschen, die selbst betroffen sind, in der Lage sind, zu vergeben. In unserer heutigen Gesellschaft besteht oft wenig Verständnis für echte Vergebung. Ich bin überzeugt, dass, wäre dies ein echter Fall, der durch die Medien geht, viele empörte Stimmen laut geworden wären, die grundsätzlich aber gar nicht betroffen waren. Interessant ist, dass Betroffene oft eher bereit sind, zu vergeben, als Menschen, die „nur“ empört sind.
Kann man sich selbst vergeben? An Erics Beispiel sieht man, dass dies sehr schwer ist. Er hat unglaubliche Schuld auf sich geladen und war zumindest zu Beginn des Krieges ja auch mit vollem Herzen dabei. Er glaubte, für die richtige Sache zu kämpfen. Erst sehr spät erkennt er, dass er auf dem falschen Weg ist. Auch, wenn er nach dem Krieg versucht, sich ein normales Leben aufzubauen, so ist es für ihn natürlich doppelt schwer, weil er als Kriegsverbrecher gesucht wird und so ein Leben unter dem Radar führen muss. Zu seinen Schuldgefühlen kommt also auch noch die ständige Angst, entdeckt zu werden.
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob es ihm nicht besser gegangen wäre, wenn er sich wirklich allen Konsequenzen gestellt hätte. Ich fand den Klappentext hier nämlich ein bisschen irreführend, denn sich „mit allen Konsequenzen“ seiner Vergangenheit zu stellen wäre für mich auch gewesen, sich der Strafgerichtsbarkeit zu stellen. Dazu kommt es jedoch nicht. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, aber vielleicht wäre es für seinen Seelenfrieden besser gewesen, sich seiner Strafe (wie auch immer sie ausgefallen wäre), zu stellen und danach neu in sein Leben zu starten. Ich muss aber auch gestehen, dass ich zu wenig Wissen habe, wie die Strafen ausgefallen sind, um zu erahnen, ob es überhaupt ein „danach“ für ihn hätte geben können.
Spannend fand ich auch die Geschichte rund um Erics Zwillingsbruder Jan. Hier kommt natürlich nochmal ein ganz neuer Aspekt ins Spiel. Als wir Jan kennenlernen, befinden wir uns im Jahr 1964, also weit nach Ende des Krieges. Jan ist inzwischen Präsident des Oberlandesgerichts, also steht er eigentlich auf der Seite unseres Rechtsstaates. Aber… Blut ist wohl doch dicker, als Wasser und er hilft Eric. Hier hätte ich mir gewünscht, dass wir anhand von Jan ein bisschen eintauchen dürfen, ob das, was er da tut, richtig ist. Rechtlich gesehen ist es sicher falsch, moralisch gesehen… ich weiß es nicht. Da die Geschichte aber nur aus der Perspektive von Eric erzählt wird, erfahren wir natürlich wenig von Jan und seinen Gedanken.
Schön fand ich zu sehen, wie die Liebe zur Musik, die Eric schon vor dem Krieg begleitet hat, ihn auch nach den schrecklichen Geschehnissen immer wieder aufrecht hält. Musik kann ein Anker sein, das wird dem Leser hier sehr deutlich vor Augen geführt.
Alles in allem hat Regine Claaßen eine unglaublich spannende Geschichte geschrieben, die mich sehr ins Nachdenken über Schuld und Vergebung, über Recht und Unrecht gebracht hat. Sie zeigt anhand dieser Geschichte auf, dass diese Fragen nicht einfach zu beantworten sind. Es gibt eben im menschlichen Leben nicht nur weiß und schwarz, es gibt dazwischen ganz viele Grautöne. Auch wenn Eric selbstverständlich Schuld in einem schier unermesslichen Ausmaß auf sich geladen hat, so ist er kein per se böser Mensch, im Gegenteil, er war mir sympathisch, er hatte mein Mitgefühl. Ich hätte mir einfach nur gewünscht, dass er sich nicht versteckt, sondern irgendwann die Verantwortung für seine Taten übernimmt.
Einerseits finde ich es sehr gut, dass Regine Claaßen dem Leser an keiner Stelle vorgibt, was er zu denken hat. Jeder darf sich selbst ein Urteil über das Handeln der Figuren bilden. Mir selbst fällt das gar nicht so einfach, muss ich zugeben. Die menschlichen Handlungsweisen sind so vielschichtig, dass man manchmal sich selbst kaum versteht. Wie soll man da in den Kopf von Eric schauen und sich ein Urteil bilden? Zumal ich nach wie vor der Meinung bin, dass man sich mit Urteilen über andere Menschen sowieso zurückhalten sollte, solange man nicht in dessen Schuhen gesteckt hat. Andererseits gibt es natürlich sowohl eine moralisch-ethische Komponente in dieser Geschichte, als auch schlicht eine rechtliche Komponente. Da es sich bei der Autorin um eine Richterin handelt, die grundsätzlich mit der Auslegung von Gesetzen vertraut ist, hätte ich mir vielleicht hier ein bisschen mehr inhaltliche Tiefe gewünscht.
Extrem gelungen fand ich das Ende der Geschichte. Die Autorin hat sowohl Erics Geschichte zu einem runden, gelungenen Abschluss gebracht, als auch Marcels und Gretas Geschichte. Sie lässt den Leser nochmal wieder sehr nachdenklich zurück, was die Fragen nach Schuld und Recht bzw. Unrecht angeht.
Ich vergebe 5 Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung.
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